Res Ingold
Orbit
aus: Katalog Black Atlas, Wiesbaden 2015
Wem gehört der Weltraum?
Für die einen bedeutet Orbit Geschmack für gute Laune. Ein Kaugummi als ständiger Begleiter, der rund um die Uhr für frischen Atem sorgt. Für andere ist es der Begriff für eine Satellitenumlaufbahn. Wieder andere verbinden mit diesem Ausdruck die Augenhöhle, jenen Schädelbereich, der sich aus sieben verschiedenen Knochen um das Oculum herum zusammensetzt. Stirn-, Joch- und Tränenbein, Gaumen-, Sieb- und Keilbein umgeben zusammen mit dem Oberkiefer das empfindliche Sehorgan als Schutzhülle und zur Verankerung. Die Augen als Fenster zur Welt, so wie die Ohren als akustische Flügeltüren dazu. Weit verbreitet ist die Binsenwahrheit seeing is believing, aber auch die Linsentrübung.
Orbis ist der lateinische Kreis und kommt im katholischen Premium-Segen für Urbi et Orbi zum Ausdruck, den Segenswünschen für die ewige Stadt und die ganze Welt. Seine Wirkung wird im Informationszeitalter auf eine harte Probe gestellt, denn augenscheinlich ist das gesprochene Wort nicht dasselbe, wie das das gesurfte, durch Wellen übertragene. Es besteht derselbe Zweifel an der Wirksamkeit der Aussage wie bei juristisch relevanten Forderungen, sogenannten fristwarenden Dokumenten. Um die unterschiedliche Belastbarkeit der Aussagekraft gesprochener, geschriebener, gefaxter, gemailter oder gebeamter Meinung. Es geht um die Glaubwürdigkeit von Aussagen, um die Akzeptanz festgesetzter Erkenntnisse, um scheinbare Wahrheit und um die Frage, ob eine mediale Übertragung von Worten deren Bedeutung verändert. Ob ein übers Internet verbreiteter Zauber noch Wirkung erzeugen kann. Und um die Frage nach Evidenz und darum, wie viel man über das Universum wissen möchte. Und um die Deutungshoheit solcher Kenntnisse und deren Anzweiflungen.
Mit Orbit assoziiert man die Erdumlaufbahn von Mond, Satelliten und anderen Raumflugkörpern. Ewig dreht sich alles, die Planeten um die Sonne, das Sonnensystem um den Mittelpunkt der Milchstraße, die Milchstraße um die Konferenz der Association of Space Explorers und diese um die Frage, wem das Universum gehört und wie man es benützen kann.* Alles kreist um ein Zentrum herum und hinterlässt die Frage über die Kraft im Raum, die das alles im Auge behält. Natürlich gibt es keine einfache Antwort darauf, sondern weitere offene Fragen. Zum Beispiel die nach Quellen, Informationsbeschaffung, Ideologie, Propaganda, Marketing. Satelliten sind Funktionserweiterungen der Erdbenutzung, sie umkreisen den Globus in weitgehend freier Bahn und bilden ein Traggerüst für Hebelarme der Informationstechnik. Sie vergrößern den Anwendungskomfort der technischen Geräte und vereinfachen die Steuerung von Massen, Medien, Prozessen. Satelliten erfassen Daten und leiten sie weiter, sie bilden Kontrollsysteme für die Ortung beweglicher und unbeweglicher Ziele. Sie werden produziert, um Vorsprung zu bekommen oder Rückschläge zu vermeiden, Macht zu gewinnen oder Ohnmacht zu verbreiten, Sicherheit zu finden oder Unsicherheit zu verbergen, Angst zu nehmen oder Ängste zu schüren.
Man kann den Begriff Orbit aber auch anders umkreisen, assoziativ beispielsweise, lautmalerisch oder anagrafisch. So betrachtet reimt sich Orbit auf Cebit und schon kreist man in Gedanken um die Hannover Messe herum, stellt sich neue informations-technologische Erfindungen aus der ganzen Welt vor, mit denen unglaubliche Abkürzungen oder unvorstellbare Ausdehnungen gemacht werden können. Nur ein Anfangsbuchstabe weiter im Alphabet und man ist beim Debit, ergänzt zum Debitor und denkt an einen Schuldenberg oder möglicherweise an ein Nadelöhr und ein Kamel, denkt vielleicht an eine PVC Karte im ISO Format 7810 für bargeldlosen Geldverkehr, erinnert sich an all die Zahlvorgänge, die man selber damit im Lauf der Jahre vorgenommen hat, stellt sich vor, wie viele andere Karten jeden Augenblick belastet werden und ahnt, dass damit ein unablässig pulsierender, unüberschaubarer Schwarm von Geldbewegungen in Gang gehalten wird. Eine unsichtbare interkontinentale Hülle rund um den Globus aus Geldbesitzveränderungen. Und ein globales Kontrollsystem mit einem exklusiven Zugriffsgefälle.
Jeder Vorstoß ins Weltall stellt einen Versuch dar, den menschlichen Lebensraum zu erweitern. Einige hinterlassen Fußabdrücke oder Flaggen auf dem Mond, andere möchten dort Helium abbauen. Es gibt Weltraumexpeditionen mit hochauflösenden Teleskopen zur Fernuntersuchung der kosmischen Vergangenheit, um alles und jedes zu erfahren, was auf der Erde vor sich geht und was in weiter Ferne zu erwarten ist. Experimente am Limit des Bewusstseins als Modellversuche, die raumzeitliche Ausdehnung des Universums durch Wissensexplosionen einzuholen. Extravagante lassen sich im All bestatten und wer es sich leisten kann, bucht bereits vor dem Ableben eine Reise über den üblichen Horizont hinaus, um die Heimat mal von außen zu betrachten. Weltraumtourismus für Superreiche belebt die Fantasie und fördert Spekulationen. Doch mit Geld allein ist die Erdanziehung nicht zu überlisten. Auch metaphorische Weltraumfahrten beginnen erst mal im Kopf. Der Kosmos ist zwar unendlich, aber auch ein Satellit und eine Trägerrakete. Humboldts große Schilderung heißt genauso Kosmos wie ein Kino in Berlin oder ein Buchverlag. Das Universum ist bloß ein konzeptueller Raum außerhalb der Erdatmosphäre, willkürlich festgeschrieben ab einer Höhe von 100 Kilometern. Irgendwo am Rand des Alls eiert diese eingebildete Erde rum.
Wenn man Orbit eher rhythmisch reimen möchte, kommt man möglicherweise auf Sorbet, kriegt Lust auf ein fruchtiges Eis und stellt sich vor, wie leicht man sich von einem guten Gedanken ablenken lassen kann. Orbit bedeutet ja nichts anderes als Umlaufbahn und klingt nach täglichem Schwerverkehr und Autobahn, nach schlecht heilender Fingernagelentzündung, nach Rotation und Revolution, nach unvorstellbaren Geldmengen, die verschoben werden und hält erstaunt inne, weil man schon wieder bei den Finanzen angelangt ist, zumindest bei Wertvorstellungen. Und man fragt sich vielleicht, wieso die Gedanken nicht mal wirklich weitere Kreise ziehen. Man kann die Überlegungen auch in Symbolen ausdrücken oder in einer fremden Sprache und stellt fest, dass sich auch mit Übersetzungen orbitale Bedeutungskonstellationen erzeugen lassen. Auf Französisch etwa entspricht der Begriff für Gold den beiden Anfangsbuchstaben von Orbit. Und als Bit wird ja ein Informationsgehalt bezeichnet, ein Elementarzustand, der beim Gold als entscheidende Komponente dem alchimistischen Streben nach Transformation von elementarem Schöpferwillen in Materie entspricht. Also Kunst. Der Kosmos kann niemandem gehören, aber man darf ihn sicher nicht den Theologen, Technokraten und Spekulanten überlassen.
Rom, Ostern 2015
* Zu diesem Thema unterhielten sich die noch lebenden Weltraumveteranen (die sich selber als "Bürger des Weltraums – Hüter der Erde" bezeichnen) anlässlich des 26. Planetarischen Kongresses der Association of Space Explorers (ASE) in Köln kontrovers zu dem Dialog zwischen Markus Döhne und Res Ingold über die künstlerischen Potenziale des Weltalls im Raketenturm der Lutherkirche.