Klaus Findl
Oben ist nichts
Rede zur Ausstellungseröffnung return to forever am 28. Juni 2013 im turm, Köln 2013
Was ist da oben? „Der Weltraum, unendliche Weiten …“ – wissen wir.
Ich fange ganz unten an. Obwohl, wie Markus Döhne gestern sagte, es besser sein kann, sich von oben runterzuarbeiten als umgekehrt. Es widerspricht zwar den Modellen, die uns gewöhnlich umtreiben; die Bewegung von oben nach unten aber entspricht vielleicht einem subtileren Fazit, das uns die Lebenserfahrung aufdrängt, ob wir wollen oder nicht.
Fangen wir unten an, wo wir ja eh hier in einer Art ungemütlichen Empfangshalle sind, mit einem Firmen-Werbeträger, der eine zu erreichende Mission verspricht und so gleich der Kirche einen nonchalanten handshake gibt. Auch die goldene, in einer Vitrine aufgebahrte Urne, mit der unsere Überreste nach ganz da oben geschossen werden können, ist eine Verheißung nach dem Ende. Für den, dem all die Anfänge hienieden nicht genügten…
Fangen wir unten an. In Stanley Kubricks’ Film 2001 – Odyssee im Weltraum ist mir eine Einstellung in Erinnerung, in der ein Besucher an Bord der Fähre auf dem Weg zu einer Orbitalstation sehr konzentriert die sehr ausführliche Gebrauchsanweisung einer zero gravity toilet studiert, einer Schwerelosigkeitstoilette. Die Probleme des Unten sind hartnäckig selbst auf dem Weg zum Mond. Das ist nur dann erniedrigend, wenn man glaubt, man käme auf dem Weg ins All und zum Mond eindeutig nach oben. „Ich würde dich am liebsten auf den Mond schießen!“ ist nicht zum Zweck der Erhöhung des anderen ausgesprochen, sondern ist eine Botschaft für jemanden, der unten durch ist.
Apropos unten durch. Als die NASA zu den Hochzeiten der bemannten Raumfahrt Flüge zu entfernteren Planeten und Galaxien anstrebte, dachte man darüber nach, da auf so weiten Reisen nie genügend Proviant würde mitgeführt werden können, wie die Ausscheidungen der Astronauten auf dem Flug immer wieder in Nahrung umgewandelt werden könnten. Das ist insofern interessant, als es eine der aussagekräftigsten Analogien zum Problem der Originalität in der Kunst darstellt. Das aber nur nebenbei.
Zurück nach weiter oben.
Das Sprechen über Kunst bildet normalerweise die Bewegung der Raumfahrt nach, sofern diese im wissenschaftlichen Zeitalter eine Metapher für die Eroberung höherer Sphären ist. Das Sprechen über Kunst kommt gewöhnlich von oben und ist als solches oft unter aller Kanone. Jeder, der mehr als zwei Ausstellungseröffnungen gehört hat, weiß das. Denn dieses Oben ist meist mit Raumschiffen erreicht worden, die andere gebaut haben. Ich möchte deshalb hier Ihre Aufmerksamkeit bei Gelegenheit mehr auf das Fußgängerverhalten in einer Ausstellung richten.
Der rote Affe (kein nostalgisches Wortspiel aus dem kalten Krieg intendiert) in Raum 1 z. B. hat Riesenarme, die schon in den Raum über ihn greifen. Gleichzeitig wissen wir, dass er erst noch in einem sehr langwierigen Verfahren von seiner Höhe auf die Erde runter muss, um dann aufsteigen zu können. Aber die Sterne sind schon als Rasterpunkte da. Und in dem Bild in komplementären Grün sitzt er schon in der Raumkapsel, die eine ihrer unteren Stufe inmitten der Sterne gerade absprengt und nach unten fallen lässt.
Der andere rote Affe Nikita hält sich in der Vitrine eine Kugel über seine selbstzufrieden grinsende leuchtende Birne. Ein Ergebnis von Initiative und Begeisterung, ja ja ... (und blauer Verführung). Ein Modell des Sputniks, des ersten unbemannten Satelliten, einer Kugel, die der Russe zum kastrativen Entsetzen der Amerikaner als erste auf eine Umlaufbahn schickte, von wo er auch die USA immer wieder überflog. „Wenn der Russe kommt“, hieß es. – Die Antwort waren, man kennt das, diese riesigen Erektile, mit denen der Ami sich triumphal selbst zum Mond schoss. – Man guckt hoch, und was man sieht, ist immer wieder ganz ganz unten...
Sie hören, ich versuche auch unten zu bleiben, während ich immer nach oben schweife, wenn ich die Kunst bespreche.
Betrachten Sie die Raketenbilder in Raum 2. Das ikonisch Phallische rührt einen so an, weil das inzwischen Folklore aus dem kalten Krieg ist. Die wissenschaftliche Weltraumforschung ist heute überall, nach innen wie nach außen. Die Zeiten ihrer naiven, gerade der sexuellen Metaphorik ist längst vorbei, wir sehen sie nicht mehr, weil sie allgegenwärtig ist, so wie wir alle Freudianer sind, ob wir wollen oder nicht. Es sind übrigens Ikonen – verfahrenstechnisch eine klassische Ikonenmalerei auf Holz mit aufgetragenen scheinbaren Goldgründen.
(es treibt mich geradezu in die Niederungen des Kalauers: so sieht subtile Kooperation zweier Künstler aus: alles Ingold – aber von Döhne... Entschuldigung…)
Und die Vitrine dort in dem Raum: wissen Sie, was das für ein Gerät ist, das da eingesargt wurde und das Ähnlichkeit mit einem Bohraufsatz hat? Ich wusste es nicht. Die Künstler haben es mir erklärt. Es handelt sich um eine Spritze, mit der Fett auf die so genannten Schmiernippel einer Maschine auf- und eingebracht wird! – Ich sage das, um darauf hinzuweisen, wie schwierig es sein kann, sich ab einem bestimmten Ernsthaftigkeitsgrad in der Sprache verstecken zu wollen. Wie schwierig, unbefleckt oben zu bleiben, wenn man den Dingen nichts ahnend auf den Grund gehen will. Die Raumfahrt, wenn man sich selbst auf sie einlässt, ist ein wunderlich Ding. Kunst ist auch ein Gegenentwurf zum astronautisch- technischen Verständnis von Raumfahrt, wie mir Res Ingold sehr richtig erklärte. Eine andere Raumfahrt.
Eine Rakete, in der Sie sitzen, hat nur ein Ziel, eine Ausstellung nicht! Das Hin und Her zwischen Ihnen als Fußgänger und dem ganzen Weltraum der Ausstellung ist Ihre eigene ergonomische Interaktion und Partizipation... – ...wie Sie z. B. Ihren Gang beschleunigen auf der Treppe, damit Sie schneller oben oder wieder unten sind, wie Sie zögern, wie stur Sie höher marschieren, wie Sie sich anstrengen oder neugierig oder angeödet sind, wann Sie Gespräche anfangen, wann diese in Bezug auf die anwesenden Werke verebben, oder von ihnen gerade angeregt werden. Vernachlässigen Sie nicht die Zeit auf den Treppen zwischen den Werken und Stockwerken. Und die Zeit danach... – Und auch vor den Werken selbst: Was löst eigentlich das Verhältnis von Bild und Vitrine in Ihnen aus? Von Motiv und Rasterpunkten? Wo träumen Sie sich hin? In Welchen Rhythmen zögern, schauen, stocken Sie...? Und wo führt Sie das alles hin? Verzeihen Sie diesen etwas didaktischen Ausfall…
Kommen Sie noch eins höher und gleichzeitig tiefer. Raum 3 ist ein Kellerloch mit drei Angeklagten und einer kleinen Stellvertreterkugel als corpus delicti. Wenn der Mond, wie es in einem katalanischen Sprichwort im Treppenaufgang heißt, wenn der Mond das Gewissen der Erde ist, sehen Sie hier die drei Verbrecher, die das Gewissen der Erde als erste betreten haben. Ein großer Schritt für die Menschheit. Sie sehen belastet und angeklagt aus. In Buzz Aldrins, des zweiten Mannes auf dem Mond, Autobiographie heißt nicht return to forever, sondern return to earth, offenbar die große Aufgabe seines Lebens danach. Er wurde übrigens angeblich Alkoholiker, kam aber auch von dort zurück.
Aber das letzte Wort zum Runterkommen und Zugrundegehen ist noch nicht gesagt. Ganz oben, im Rotlichtbezirk, graben die Maulwürfe, bohren die Erdbohrer, fahren die U-Bahnen, rennen die Stiefel durchs unterirdische Wasser. Ganz oben am Ende der Raumfahrt ist eine Katakombe mit einem Filmalbum aus dem Leben des Künstlers als Grabtier. Sehr schön schräg in den Raum gesetzt, und am schönsten: schwierig zu lesen in vielen Einzelheiten. Nicht mehr alles verstehen zu müssen und in Ruhe schauen zu können, ist eine schöne Ankunft. Auch wenn man dabei merkt, dass es anstrengend sein kann, den Kopf längere Zeit hoch erhoben zu tragen.
Es ist schwierig, Sie haben es wahrscheinlich gemerkt. Das Problem, nicht über, sondern zur Kunst zu sprechen, besteht auch darin, dass man zwei Dinge gleichzeitig zu tun hat. Ich spreche von der Bodenstation Erde aus, mit all den Instrumenten, die ich vorfinde und der vorfabrizierten Erkenntnis, die diese produzieren – und ich will gleichzeitig, wie ein Außerirdischer, der einen staunenden Besuch auf völlig unbekanntem Terrain macht, wahrnehmen und sprechen. Immer oben und unten zugleich. Egal, wie hoch es geht.
Was also ist oben?
Als ich mir gestern Abend die aufgebaute Ausstellung das erste Mal ansah, durch die Räume des Raketenturms mit seinen verschiedenen Stufen flanierte, hatte Res Ingold seine Projektion in der Turmkatakombe noch nicht aufgebaut. Ich traf den Kurator Herrn Vogel in einem der unteren Räume und sagte zu ihm nach einem kurzen Gespräch: „Ich gehe noch mal nach oben“ – Herr Vogel sah mich an und sprach beiläufig den Satz, der besser als ich es könnte, eine immer wieder erschütternde zentrale Wahrheit über die hier behandelten Fragen und über den wichtigsten Schnittpunkt von Religion, Kirche, Kunst und Wissenschaft formulierte.
Er sagte: „Sie wissen, dass oben nichts ist…?“